Der Flutmontag von Oberheimbach – Protokoll einer Dorfkatastrophe

von
Ronny Licht und Nathalie Hartenstein vor ihrem Haus in Oberheimbach.

Der Schrecken des Morgens vom 30. Mai sitzt vielen Oberheimbachern immer noch in den Knochen. Nach starken Regenfällen waren Teile des Ortes überflutet worden. Vergangene Woche hatte darum die Ortsverwaltung zu einem Helferfest eingeladen, um sich bei den Freiwilligen Helfern, den Rettungskräften und den Betroffenen für ihren Einsatz zu bedanken. Ich war auch dort und habe mich mit denen unterhalten, die den Unwettermorgen erlebt haben. Aus ihren Erzählungen ergibt sich diese Chronik der Flutkatastrophe.

Annemarie Baumgarten (li.) und ihre Nachbarin Änni Bappert gehören zu den Hauptbetroffenen der Flut.
Annemarie Baumgarten (li.) und ihre Nachbarin Änni Bappert gehören zu den Hauptbetroffenen der Flut.

Das Schlafzimmer von Annemarie Baumgarten geht direkt zum Bach hin. Heftiges Rumpeln und das Tosen des Wassers wecken sie an diesem Montag früh auf. Es ist noch vor sechs. Die Seniorin hat mitbekommen, dass es die ganze Nacht geregnet hat. Noch im Nachthemd geht sie auf den Balkon, um nachzuschauen, was los ist. In der Morgendämmerung sieht sie, dass der sonst friedlich gurgelnde Heimbach zu einem brüllenden Wildbach angeschwollen ist. Ihr Haus liegt in der kleinen Hintergasse, die dorfaufwärts kommend rechts von der Hauptstrasse abgeht. Direkt vor ihrem Haus unterquert “die Bach”, wie man hier sagt, eine Brücke, bevor sie sich “Am Sonnenhang” vorbei durch eine kleine Klamm windet. Als Frau Baumgarten auf den Balkon tritt, geht der Heimbach gerade noch unter der Brücke durch. Das braune Gewässer donnert in Richtung Tal, reißt Geröll, Äste und Sträucher mit. Dann sieht Annemarie Baumgarten den dicken Baumstamm, der auf die Brücke zuschießt.

Die Ereignisse dieses Morgens haben ihre Spuren hinterlassen. Nicht nur im Dorf, sondern auch bei den Bewohnern. Das merke ich bei meinem Besuch beim Helferfest in Oberheimbach. Eine ältere Dame, die ein Haus bewohnte, das nun einsturzgefährdet ist, will nicht mir mir über das Unwetter sprechen. Während der Begrüßung durch Bürgermeister Gerhard Leinberger geht erneut ein heftiger Regenguss über dem Ort nieder. Als wollte er die Menschen genau an diesem Tag noch einmal an seine unheilvolle Kraft erinnern, schwillt der Heimbach in kurzer Zeit um einen halben Meter an und verwandelt sich wieder in eine braune, brodelnde Brühe.

Oberheimbach ist ein typisches Mittelrheindörfchen, das keine 600 Einwohner zählt. Natürlich ist der Weinbau ein Markenzeichen, rund 100 Hektar Anbaufläche weisen die allgemeinen Ortsinformationen aus. Es gibt ein paar schöne Wanderwege, die Anwohner schätzen die ruhige Lage oberhalb des Tals, fernab vom Verkehrslärm. Dazu ist Oberheimbach geprägt von vielen kleinen Bachläufen, die die Ausläufer des Soonwaldes entwässern. Forstbach, Heiligkreuzbach, Langwiesbach und noch einige weitere kleinere Bäche fließen in Oberheimbach in den Heimbach, der sich mitten im Ort durch eine kleine Schlucht gegraben hat, bevor er durchs gleichnamige Tal runter nach Niederheimbach und dort in den Rhein rauscht. All diese Bäche führen in dieser Nacht zum 30. Mai bereits viel Wasser.

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Von überall her drangen die Wassermassen in den Ort ein. (Bild: Tobias Eisenbach-Korn)

Seit Pfingsten ging nahezu täglich Regen über der Region nieder. Der Waldboden quillt über, kann keinen Tropfen Wasser mehr aufnehmen, das darum von überall in Richtung Tal die Hänge runterfließt. Aus sonst kleinen Rinnsaalen sind längst kräftig fließende Bäche geworden. In dieser Nacht erreichen die Unwetter ihren Höhepunkt. Laut Messungen von Kachelmannwetter.com gehen zwischen zwei und acht Uhr Morgens über 50 Liter Regen pro Quadratmeter über der Region nieder. Der ohnehin aufgeweichte Boden verwandelt sich endgültig in einen matschigen Brei, der keinen Halt mehr bietet. Um 5:46 geht bei der Feuerwehr in Bacharach die erste Alarmierung ein: Unterhalb der Burg Sooneck ist eine Mauer aus dem Weinberg auf die B9 gerutscht. Wehrführer Markus Heidrich macht sich mit einem Trupp auf den Weg, um die Stelle zu sichern. Während er und seine Männer noch mit dem Erdrutsch beschäftigt sind, verschärft sich die Lage in Oberheimbach innerhalb weniger Minuten. Um 6 Uhr 31 werden Heidrich und seine Männer erneut alarmiert.

So sah es am Tag der Flut in der Hintergasse aus. (Bild: Gemeinde Oberheimbach)
So sah es am Tag der Flut in der Hintergasse aus. (Bild: Gemeinde Oberheimbach)

Nathalie Hartenstein und Ronny Licht merken davon zunächst nichts. Sie schlafen friedlich in dem Fachwerkhaus ganz am Ende der Hintergasse, in das das Paar vor einem halben Jahr eingezogen ist. Ihren Freunden schwärmt Nathalie Hartenstein von der tollen Lage vor: Ruhig, direkt am Bach gelegen, könne sie so wunderbar zum Gurgeln des Wassers einschlafen, hat sie ihnen erzählt. Während sie noch schlafen, sind viele Oberheimbacher jetzt schon auf der Straße und haben den Kampf gegen die Wassermassen aufgenommen. Von überall scheinen die Fluten in den Ort zu schießen. Einige der kleineren Bäche sind bereits übergelaufen und spülen Schlamm und Geröll auf die Straßen und in die Häuser.

Annemarie Baumgarten steht auf ihrem Balkon und blickt in Richtung der kleinen Brücke. Das Haus von Nathalie Hartenstein und Ronny Licht steht direkt daneben. In diesem Moment donnert ein riesiger Baumstamm in Richtung Brücke. Er prallt auf die Überführung und stellt sich quer. Der Baum hat Zäune, Sträucher und Büsche mitgerissen, die jetzt alle an ihm hängenbleiben. Die gewaltige Kraft des Wassers drückt den ganzen Klumpatsch gegen die enge Brückenöffnung und versiegelt den Durchfluss. Innerhalb weniger Sekunden tritt der Bach übers Ufer und ergießt sich in die Hintergasse. Jetzt wird Nathalie Harteinstein wach. Jemand klopft heftig an ihre Tür.

Beim Helferfest treffe ich Revierförster Joachim Jacobs. Nachdem schon direkt am Unwettertag die schlimmsten Schäden beseitigt werden konnten, begann seine Arbeit erst danach. Seit Wochen ist er mit den Aufräumarbeiten beschäftigt. Seine Hauptaufgabe: Bäume zu fällen, die in dem weichen Boden keinen Halt mehr finden und in den Bach stürzen könnten. Bei einem erneuten Unwetter wäre das die größte Gefahr. Woher genau der Baum kam, der am 30. Mai die Brücke zu machte, ist nicht völlig aufzuklären. Vermutlich war es eine Erle, im Herbst oder Winter des vergangenen gefällt. Der gewaltige Stamm hätte selbst mit einem Traktor nicht abtransportiert werden können. Der Besitzer legte den Baum in Ufernähe am Heimbach ab, nicht ahnend, dass dieses harmlose Wald- und Wiesenbächlein die Kraft haben könnte, einen mächtigen Baumstamm mitzureißen. Eine fatale Fehleinschätzung.

Diese Brücke wurde durch einen Baumstamm blockiert. Das löste den verhängnisvollen Rückstau aus.
Diese Brücke wurde durch einen Baumstamm blockiert. Das löste den verhängnisvollen Rückstau aus.

Nathalie Hartenstein geht noch in ihren Schlafsachen die Treppe herunter. “Das Wasser kommt!”, ruft ein Nachbar laut. In dem Moment, als sie die Tür öffnet, schießt eben dieses Wasser schon ins Haus. Ihr erster Impuls gilt den Schuhen, die sie rasch zusammensammelt und auf ein Regal stellt. Eine Tat, die sich schnell als sinnlose Übersprungshandlung entpuppen wird. Sie eilt wieder ins Obergeschoss des Hauses, um sich anzuziehen. Doch es ist bereits zu spät. Nur Minuten später steht das Wasser schon 1,5 Meter hoch im Erdgeschoss des Fachwerkhauses. Die Schuhe treiben wie kleine Flöße auf der braunen, schlammigen Brühe. Das junge Paar ist jetzt eingeschlossen im eigenen Haus.

Inzwischen trifft Wehrleiter Markus Heidrich mit seinen Leuten in Oberheimbach an. Über die Hauptstraße von Niederheimbach kommen sie am Bergschlösschen vorbei. Dort rauscht ihnen bereits eine dicke Suppe aus Schlamm, Geröll und Wasser entgegen. “Es war, als wäre man in eine andere Welt gekommen”, wird er später zu dieser Szenerie sagen. Viele Dorfbewohner versuchen verzweifelt, der Wassermassen Herr zu werden. Mit Schaufeln und Schippen kämpfen sie gegen den Schlamm, der in ihre Häuser eindringt. Die Wehrleute arbeiten sich bis auf den Dorfplatz vor, wo Heidrich sich erstmal einen Überblick verschaffen will. Kaum ist er aus dem Einsatzfahrzeug ausgestiegen, eilt ihm jemand entgegen und ruft: “Dahinten steht alles unter Wasser!” Heidrich begibt sich umgehend in Richtung Hintergasse, wo ihm das wahre Ausmaß der Katastrophe klar wird.

Dieses Haus ist durch die Fluten unbewohnbar geworden. Es ist einsturzgefährdet.
Dieses Haus ist durch die Fluten unbewohnbar geworden. Es ist einsturzgefährdet.

Inzwischen sind alle Anwohner der Hintergasse vom Wasser eingeschlossen. Der über die Ufer getretene Heimbach hat die Häuser binnen Minuten um mehr als einen Meter unter Wasser gesetzt. In den meisten Wohnungen leben Senioren wie Annemarie Baumgarten. Ihre Häuser sind glücklicherweise auch von der erhöht liegenden Straße “Am Sonnenhang” über die Rückseite erreichbar. So können die alten Damen in Sicherheit gebracht werden. Nathalie Hartenstein und Ronny Licht sehen derweil mit an, wie ihr Auto in den Fluten nahezu vollständig versinkt. Ihr Haus ist am stärksten betroffen und steht mitten in den Fluten. Markus Heidrich entscheidet schließlich, das eine Rettungsaktion zu gefährlich wäre. Die Beiden müssen ausharren, aber das solide Fachwerkhaus ist nicht einsturzgefährdet. Anders das Vorderhaus der Hintergasse. Dort hat sich inzwischen an der Vorderseite ein Riss gebildet, der sich schnell vergrößert. Schließlich rutscht ein großes Stück der unterspülten Hauswand ab. Währenddessen gehen weitere Notrufe aus Oberheimbach ein: Bäume stürzen um, Straßen sind unpassierbar, Keller laufen voll. Die Ereignisse überschlagen sich. Markus Heidrich versucht, inmitten des Chaos die Ruhe zu bewahren. Er alarmiert das THW und einen Bausachverständigen der Verbandsgemeinde. Außerdem holt er Unterstützung von weiteren Wehren aus dem Umkreis. Die Winzer aus dem Ort schaffen Traktoren herbei, jeder hilft, wo er kann. Erste Aufgabe der anrückenden THW-Kräfte: Die eingestürzte Wand zu sichern. Nachdem das getan ist, widmen sich die Rettungskräfte Stück für Stück den anderen Katastrophenherden. Langsam aber sich geht das Chaos in einen geordneten Rettungseinsatz über, bei dem zum Glück niemand ernstlich verletzt wird. Nach einigen Stunden gelingt es, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Noch im Laufe des Vormittags beginnen die Wasserpegel zu sinken. Auch Nathalie Hartenstein und Ronny Licht können irgendwann ihr Haus verlassen. Die Schäden sind immens. Aber das Schlimmste ist erstmal  überstanden.

Mit vereinten Kräften haben die Oberheimbacher ihren Ort aufgeräumt. (Bild: Tobias Eisenbach-Korn)
Mit vereinten Kräften haben die Oberheimbacher ihren Ort aufgeräumt. (Bild: Tobias Eisenbach-Korn)

Das Schlimmste ist überstanden. Aber die tatsächlichen Folgen sind noch nicht absehbar. Laut Bürgermeister Leinberger gibt es noch keine Schätzung über die Höhe der Schäden. Fakt ist: Mindestens ein Haus ist unbewohnbar und muss abgerissen werden. Von den betroffenen Anwohnern, überwiegend ältere Frauen, wollen viele nicht mehr in die alten Wohnungen zurückkehren, selbst wenn es möglich wäre. Zu tief sitzt die Angst vor einem erneuten Hochwasser. Die meisten haben einen Großteil ihres Hab und Guts verloren. Nathalie Hartenstein und Ronny Licht sind bereits in ihr neues Haus zurückgekehrt, in dem noch die Trockengeräte laufen. Sind neue Unwetter angesagt, stellen sie sich nachts mehrmals einen Wecker, um zu gucken, ob das Wasser wieder kommt. Ruhig schlafen? Das geht noch nicht.

Vielen Dank an die Oberheimbacher, die mir für diesen Beitrag von ihren Erlebnissen berichtet und mir Bilder zur Verfügung gestellt haben.
Wer dem Ort und seinen Bewohnern helfen möchte: Die Gemeinde Oberheimbach hat über die VG ein Spendenkonto für die Flutopfer eingerichtet.
Sparkasse Rhein-Nahe
IBAN: DE05 5605 0180 0030 0134 78
Kennwort: Flutopfer

Ein Kommentar

  • Puh, mitreißend geschrieben.. Und leider real. Umso älter wir werden, destodesto mehr erschüttern diese Katastrophen das Selbstverständnis im täglichen Dasein, ich wünsche allen Betroffenen, ganz besonders den alten Damen, das sie bald wieder festen Boden, im übertragenen Sinne, unter den Füßen haben und sich wieder sicher fühlen, das mag etwas dauern, aber es wird mit der Zeit. Dafür sind wir Menschen, wir finden uns wieder ein, jeder mit seinem Tempo, und die Angst verblasst, und das ist gut so.